Was ist Liebe?
Was Liebe ist, dazu haben viele etwas zu sagen: Dichter, Schriftsteller und Songwriter, Psychologen, Hirnforscher und Biologen, und nicht zuletzt die Liebenden selbst. Auch die Philosophie interessiert sich seit der Antike für diese Frage. Wie könnte es auch anders sein? Die Philosophie führt die Liebe schon in ihrem Namen: Sie ist die Liebe (griechisch: philia) zur Weisheit (griechisch: sophia). Platon und Aristoteles waren die ersten großen Liebestheoretiker, andere sind ihnen gefolgt.
Die Überlegungen von Philosophen kreisen um zwei Fragen. Erstens: Was verstehen wir unter Liebe? Ist sie ein Gefühl? Oder ist sie eher ein Wollen, ein Streben nach bestimmten Zielen, z.B. nach dem Wohl des Geliebten? Und verstehen wir darunter überhaupt immer dasselbe, ganz gleich, ob jemand seinen Lebenspartner, seine Freunde, seine Geschwister oder seine Heimat liebt, von der Liebe zum Fußball oder zu meinen Lieblingsschuhen ganz zu schweigen? Es liegt auf der Hand, dass wir die Frage nach dem Begriff der Liebe beantworten müssen, um die Sache selbst weiter erforschen zu können. Wer z.B. wissen will, welche Hormone bei der Mutterliebe im Spiel sind, muss liebende Mütter von Müttern unterscheiden können, die ihre Kinder nicht lieben. Dies wiederum setzt voraus, dass man eine Vorstellung davon hat, was Mutterliebe ausmacht – und zwar bevor man deren hormonelle Basis untersuchen kann. Deswegen ist die philosophische Reflexion darauf, was wir unter Liebe verstehen, wichtig: Sie kann sicherstellen, dass wir uns über dasselbe verständigen.
Die zweite Frage, mit der Philosophen sich beschäftigen, lautet, ganz allgemein gefasst: Welchen Wert hat die Liebe? Fehlt unserem Leben etwas, wenn wir nichts und niemanden lieben? Ist die Liebe selbst etwas Wertvolles, so dass jeder Mensch versuchen sollte, sie in sein Leben zu integrieren? Und welche Erwartungen dürfen wir an uns und andere als Liebende richten? Solche Wertfragen sind ebenfalls genuin philosophischer Natur. Vermutlich kommen alle Menschen ab und zu an den Punkt, an dem sie über das eigene Leben im Ganzen nachdenken, und das ist dann die Stunde der Philosophie, und vielleicht auch der Philosophie der Liebe.
Die Philosophie hat im Laufe ihrer Geschichte nicht nur Liebesbegriffe voneinander unterschieden, sondern auch unterschiedliche Modelle zum Verständnis der Liebe diskutiert. Zwei besonders wirkmächtige Modelle sind das Einheitsmodell einerseits und das Sorge-Modell andererseits.
Das Einheitsmodell wurde schon von Platon in seinem Symposion in mythologischer Form beschrieben. Ursprünglich, so der Mythos, waren die Menschen Kugeln, dann wurden sie von Zeus, dem Chef der Götter, zerteilt, und seither sind sie auf der Suche nach ihrem Gegenstück, ihrer zweiten Hälfte, und können erst glücklich und erfüllt leben, wenn sie sie gefunden haben. Die sexuelle Vereinigung ist nichts anderes als die erneute Verbindung von zwei Kugelhälften. Liebe ist das sehnsüchtige Begehren nach dieser Vereinigung und der damit einhergehenden Wiedergewinnung der ursprünglichen Ganzheit.
Das Begehren nach Nähe ist auch ein wesentlicher Bestandteil der später aufkommenden Konzeption der „romantischen Liebe“. Die romantische Liebe hat einen typischen Verlauf, der das Thema unzähliger Romane, Filme und Lieder ist: Zwei Menschen begegnen sich, sie verlieben sich ineinander, sie sehen sich nach Nähe, auch nach sexueller Nähe, müssen aber Hindernisse und Widerstände überwinden, und am Ende finden sie zueinander und zur Erfüllung. Die gesamte Konzeption dieser romantischen Liebe, ihr „Narrativ“, wie man heute auch sagt, hat ihren Siegeszug erst seit dem 18. Jahrhundert angetreten. Dies ist kein Zufall: Der Begriff dieser Liebe schließt ein, dass sich zwei Menschen gleichberechtigt begegnen, dass sie sich frei füreinander entscheiden, und dass sie ihre Sexualität bejahen und miteinander teilen. Der Philosoph Robert Solomon hat herausgearbeitet, dass demokratische, freiheitliche, egalitäre (d.h. auf Gleichheit aller Bürger setzende) Gesellschaften hierfür die besten Grundbedingungen bieten. Erst in ihnen konnte die romantische Liebe zwischen gleichberechtigten Partnern, die sich wechselseitig ihr Herz schenken, den Stellenwert gewinnen, den sie heute für uns hat. Umgekehrt stützen auf Gleichheit und Augenhöhe ausgerichtete persönliche Beziehungen auch das Zusammenleben in egalitären Gesellschaften. Das Modell der romantischen Liebe stellt also gewissermaßen eine moderne Erweiterung und Ausdifferenzierung des schon von Platon beschriebenen Verschmelzungsmodells dar. Das erotische Begehren ist weiterhin zentral, aber es wird um die Ideen von Freiheit und Gleichheit ergänzt.
Dem gegenüber steht ein zweites wichtiges Modell, das sogenannte Sorge-Modell der Liebe, das seine Wurzeln in der aristotelischen Philosophie hat und maßgeblich durch den Gegenwartsphilosophen Harry Frankfurt geprägt wurde. Während für das Verschmelzungsmodell das Paar die Vorlage bildet, erkennt das Sorgemodell in den Eltern kleiner Kinder das Musterbild der Liebe. Nach dem Sorge-Modell ist die Liebe gekennzeichnet durch die selbstlose Fürsorge für das Wohl und die Interessen des geliebten Menschen. Selbstlos ist diese Fürsorge in dem Sinn, dass man sich um den Geliebten nicht deswegen kümmert, weil er einem noch einmal nützlich sein kann. Arbeitgeber, die durch bestimmte Angebote für die Gesundheit ihrer Arbeitnehmer sorgen, müssen sie deswegen nicht lieben – sie wollen im Normalfall einfach die Arbeitskraft erhalten. Eltern hingegen sorgen idealerweise für ihre Kinder, weil das Wohl der Kinder ihnen unmittelbar am Herzen liegt. Eltern sind aber nur ein typisches Beispiel für die liebende Sorge, sie kann sich auch auf andere Personen und auch auf Sachen richten – und, wie Frankfurt betont, auch auf einen selbst. Durch die Liebe wird jeweils das, worum wir uns sorgen, wertvoll und wichtig für uns. Frankfurt zufolge ist es daher wesentlich für ein sinnerfülltes Leben, dass wir uns selbst, jemanden oder etwas lieben. Wer nichts liebt, für den ist nichts wichtig oder wertvoll. Die Liebe macht uns zwar nicht automatisch zu moralisch besseren Menschen, aber ohne die Liebe bleibt unser Leben, so Frankfurt, sinnlos und unerfüllt.
Man könnte meinen, dass alles in Ordnung ist, sobald sich die Menschen nur lieben – so als gäbe es dann keine Probleme mehr. Aber so ist es nicht. Wir berufen uns nicht selten auf die Liebe, um daraus Forderungen und Erwartungen abzuleiten, an uns und an andere. Was müssen wir aus Liebe verzeihen? Was dürfen wir um der Liebe willen verlangen? Welche Opfer sollen wir bringen Was schulden wir Menschen, die wir lieben? Ganz offenbar bestimmt das Liebesmodell, dem wir anhängen, maßgeblich darüber mit, welche Erwartungen wir an die Menschen, mit denen wir in Liebesbeziehungen verbunden sind, richten. Wenn wir dem Beziehungspartner Egoismus vorwerfen, dann steht offenbar das Modell der Liebe als Sorge im Raum, das u.a. ein gewisses Maß an Selbstlosigkeit einschließt. Wenn wir enttäuscht sind, weil wir uns nicht genügend „gewollt“ und begehrt fühlen, dann spielt offenbar die Idee hinein, dass Liebe das Streben nach Nähe und Vereinigung ist. Wenn wir es bereuen, viel zu lange nur aus Bequemlichkeit, Angst oder Konvention in einer Beziehung geblieben zu sein, dann greifen wir offenbar auf die Vorstellung der romantischen Liebe zurück, zu der unter anderem die freie Entscheidung zugunsten des Liebespartners gehört. In allen diesen Fällen werden wir uns über kurz oder lang fragen: „Liebt er, liebt sie mich überhaupt? Liebe ich ihn oder sie?“ Und diese Frage können wir uns so übersetzen: Entspricht das, was uns verbindet, tatsächlich der von uns geteilten Konzeption der Liebe? Unsere Vorwürfe und Enttäuschungen sind zugleich ein Appell an dieses geteilte Verständnis.
Unsere Konflikte lösen sich nicht einfach in Luft auf, sobald wir unsere eigenen Vorstellungen von der Liebe besser verstehen. Aber man darf hoffen, dass man sie leichter lösen kann, wenn man sich über die eigenen Begriffe und Werte Klarheit verschafft. Dazu kann die Philosophie der Liebe beitragen. Und im Idealfall trägt sie dadurch auch zu einem liebevolleren Leben bei.