Können Tiere Langeweile haben, wozu man ja eigentlich ein Zeitgefühl haben muss?

Fangen wir mit dem zweiten Teil der Frage an, dem Zeitgefühl. Das Zeitgefühl ist eine von mehreren Formen der Zeitwahrnehmung und beschreibt die Fähigkeit, die Dauer von Vorgängen abzuschätzen. Ich nehme an, dass in der Frage eigentlich die übergeordnete Zeitwahrnehmung gemeint ist.

Nach dem, was wir heute wissen, verfügen alle Lebewesen über irgendeine Form von Zeitwahrnehmung. Selbst von Einzellern weiß man, dass sie schon eine Stunde vor Sonnenaufgang zur Wasseroberfläche aufsteigen und eine Stunde vor Sonnenuntergang wieder in tiefere Wasserschichten wandern. Dafür bedarf es einer „Inneren Uhr“, die dem Organismus die aktuelle Tageszeit anzeigt. Wenn sogar Einzeller oder Pflanzen einen inneren Tagesrhythmus haben, dann ist für ein basales Zeitempfinden also nicht einmal ein Gehirn notwendig. Für Untersuchungen zur Frage, wie die Innere Uhr auf der zellulären Ebene funktioniert, wurde 2017 der Nobelpreis für Physiologie und Medizin vergeben.

Die Frage, ob Tiere Langeweile haben können, ist aber von der Fähigkeit zur Zeitwahrnehmung weitgehend unabhängig. Langeweile ist ein unangenehmes Gefühl und ob ein Tier Beschäftigungslosigkeit als unangenehm empfindet, ist nicht unbedingt gesagt. Auch wir Menschen kennen ja den Zustand der Muße, der der Langeweile eigentlich sehr ähnlich ist – wenig Reize, wenig Tätigkeit –, der aber positiv empfunden wird. Ob Tiere Langeweile empfinden, dürfte einerseits eng mit ihrer natürlichen Lebensweise, andererseits mit ihrem Intelligenzgrad zusammenhängen. Um wenig Reize als langweilig wahrzunehmen, muss ein Tier den inneren Drang haben, etwas zu tun oder zu erleben und es muss die Alternativen zu dem aktuellen Zustand als positiv empfinden. Man nimmt an, dass Tiere wie z.B. Waschbären oder Füchse, die ihre Nahrung in der Natur suchen oder erjagen müssen, bei wenig Beschäftigung eher Langeweile haben als Pflanzenfresser wie z.B. Kühe, die den ganzen Tag auf ihrem Essen herumstehen. Es wäre schon verwunderlich, wenn sich eine Kuh auf der Wiese langweilen oder wenn ein Faultier es als unangenehm empfinden würde, den ganzen Tag an einem Ast zu hängen. Von Muscheln, die an einem Felsen festgewachsen sind, ganz zu schweigen! Andererseits weiß man von vielen Haus- und Zootieren, dass sie in einer reizarmen Umgebung ohne Ablenkung und Beschäftigung leiden. Das gilt vor allem für Raubtiere, Nagetiere und Affen, weniger für Huftiere oder Wirbellose. In Versuchen mit amerikanischen Nerzen konnten Wissenschaftler zeigen, dass diese Tiere in einer Umgebung ohne Spielzeuge und Ablenkungsmöglichkeiten viel öfter wach im Käfig herumlagen als Artgenossen in einer Umgebung mit viel Abwechslung. Wenn diesen Tieren dann ein neuer Reiz geboten wurde, beschäftigten sich die gelangweilten Tiere wesentlich intensiver und länger damit, als die nicht gelangweilten Tiere. Das zeigt, dass das Rumliegen im Käfig tatsächlich auf Grund von Langeweile erfolgte und nicht auf Grund von Apathie oder Depression.

In Zoos versucht man, der Langeweile der Tiere durch eine abwechslungsreiche Gestaltung der Gehege zu begegnen (das sogenannte „Enrichment“). Den Tieren werden immer neue Spielzeuge geboten, das Futter wird versteckt, die Futterzeiten werden variiert oder es werden ungewohnte Gerüche ausgebracht. Auch das Training von Robben oder Delfinen dient dazu, diese intelligenten Tiere in Gefangenschaft zu beschäftigen.

Dr. Harald Kullmann

Zentrum für Didaktik der Biologie

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