Warum können Tiere nicht sprechen?

Auf diese Frage findet ihr hier zwei Antworten – einmal aus der Sicht der Biologie von Dr. Harald Kullmann und einmal aus literaturwissenschaftlicher Perspektive von PD Dr. Julia Bodenburg!

Bei der Frage nach der Sprache geht es genau genommen wohl um gesprochene Sprache. Zu mehr oder minder komplexen Zeichensprachen und auch Lautäußerungen sind ja viele Tiere in der Lage.

Die Frage, warum Tiere nicht ähnlich wie wir sprechen können, ist einmal eine anatomische, zum anderen eine der geistigen Fähigkeiten. Anatomisch gibt es einige Unterschiede zwischen Mensch und Primaten, die mit unserem Sprachvermögen verknüpft sind. So ist z.B. der Kehlkopf abgesenkt und der Gaumen aufgewölbt, um der Zunge Raum zur Modulation der Töne zu geben. Rein anatomisch könnte ein Menschenaffe nicht die Bandbreite an Vokalen und Konsonanten bilden, die wir erzeugen können. Diese anatomischen Unterschiede sind nach der Trennung der evolutionären Linien, die zu den heutigen Menschenaffen und zum Menschen führen, evolviert. Wie weit das Sprachvermögen bei Homo erectus bereits gediehen war, weiß man nicht genau, aber vermutlich waren die anatomischen Voraussetzungen vor etwa 100.000 Jahren bereits im gleichen Maße wie heute gegeben. Es gibt anatomische Hinweise, dass auch der Neanderthaler zumindest die anatomischen Vorausetzungen für Sprache hatte.

Aber mindestens so wichtig, wie die anatomischen Vorrausetzungen, sind die geistigen Fähigkeiten. Das menschliche Gehirn hat im Verlauf der Evolution im Vergleich zu unseren Verwandten enorm an Größe zugenommen. Man nimmt an, dass sich die Entwicklung von Sprache und die Größenzunahme des Gehirns in der menschlichen Evolution gegenseitig angetrieben haben. Den Tieren fehlen schlicht und ergreifend die geistigen Fähigkeiten, eine dem Menschen vergleichbare Sprache zu entwickeln. Unsere Sprache setzt ein hohes Maß an Abstraktionsvermögen voraus, das den Tieren, auch den klügsten, zu fehlen scheint. Man kann einem Schimpansen beibringen, durch Laute oder Gesten Stimmungen auszudrücken oder Bedürfnisse zu artikulieren. Er wird aber nicht in der Lage sein, komplexe Sätze zu bilden und man wird schwerlich mit ihm über den Sinn des Lebens philosophieren können.

Dr. Harald Kullmann

Institut für Didaktik der Biologie

Moment, Tiere können doch sehr wohl sprechen! Biene Maja und Willi zum Beispiel zanken sich in dem Kinderbuchklassiker von Waldemar Bonsels aus dem Jahr 1912 äußerst wortgewandt; der gestiefelte Kater aus dem gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm von 1812 erweist sich als gerissener Betrüger, indem er dem König Lügen auftischt; in George Orwells‘ Animal Farm von 1945 erheben sich die Tiere eines Bauernhofs gegen ihren ausbeuterischen Besitzer und bilden ein Parlament für ihre politischen Unterredungen. All diese  literarischen Tiere sprechen die menschliche Sprache  oder verfügen über eine eigene Tiersprache: Die Schlangen in den Harry Potter-Romanen von Joanne K. Rowling sprechen zum Beispiel „Parsel“, eine Sprache, die nur einige Hexen und Zauberer verstehen. Klar,  in der Welt der Literatur können Tiere sehr wohl sprechen. Die Literaturgeschichte ist sogar voll von sprechenden Tieren und wäre um einiges ärmer ohne sie.

Bereits im 6. Jahrhundert vor Christus wurden im antiken Griechenland kurze Geschichten erzählt, in denen Tiere als sprechende Hauptfiguren auftraten. Wir nennen diesen Geschichtentypus, der sich im 18. Jahrhundert insbesondere als prominente Kinder- und Jugendliteratur herausbildete, ‚Fabel‘: Das sind kurze Erzählungen, in denen vor allem Tiere mit menschlichen Eigenschaften auftreten, also personifiziert werden. Fabeln haben eine belehrende Absicht. In einer der ältesten und bekanntesten Fabeln, die dem Dichter Äsop zugeschrieben werden, schmeichelt der Fuchs dem Raben und entlockt ihm so ein Stück Käse.

„Ein Rabe stahl vom offnen Fenster einen Käs und setzte sich zum Schmaus auf einen hohen Baum. Da nahte gierig ihm der Fuchs mit solchem Spruch: »Wie herrlich strahlt, o Rabe, dein Gefieder doch! Wie adlig ist dein Haupt und deiner Glieder Bau! Wärst du nicht stumm – es käme dir kein Vogel gleich.« Doch wie der Tor nun seine Stimme zeigen will, entfällt der Käs dem Schnabel, den der schlaue Fuchs mit gierigen Zähnen auffängt. Nun erst stöhnt, zu spät, des Raben schwer betrogne Torheit auf.“ (https://www.projekt-gutenberg.org/aesop/fabeln2/chap003.html, 11.09.2023)

Hüte dich vor Schmeichlern! – so könnte die Lehre dieser Fabel lauten. Oder aber, wenn wir uns den Grüffelo und die kleine Maus anschauen: nicht auf die Größe kommt es an, sondern es überlebt, wer mutig und gewitzt ist. Auch die Comics der Entenhausen-Familie sind im weitesten Sinn als Fabeln lesbar, ist doch zum Beispiel der geizige und habgierige Dagobert Duck als Inbegriff eines skrupellosen Kapitalisten interpretiert worden.

Aber natürlich sind es nicht die Tiere, die hier sprechen, sondern die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Tieren Wörter und Geschichten ‚in den Mund legen‘ und sie wie Menschen sprechen und handeln lassen. Zur menschlichen Sprache sind reale Tiere nicht fähig, das liegt primär an ihrer Anatomie und ihren geistigen Fähigkeiten, wie Dr. Harald Kullmann aus biologischer Sicht gezeigt hat. Literarische Tiere aber gehören in den Bereich der Fiktion: Ihnen sind nur die Grenzen der menschlichen Fantasie gesetzt. Die Literaturwissenschaft untersucht dann zum Beispiel, welche Funktion Tiere in literarischen Texten haben. Eine wichtige Funktion sprechender Tiere in Fabeln und Märchen ist es zum Beispiel, dass sie gesellschaftliche Probleme besonders pointiert ausdrücken können. Wenn etwa in dem empfehlenswerten Buch Die weiße Wölfin von Vanessa Walder (2022) ein Wolfsrudel von seinem Leben und der Bedrohung durch die Menschen erzählt, kann das eine eindrücklichere Wirkung auf uns haben als ein sachlich berichtender Text. Wie die Mensch-Tier-Beziehungen in der Literatur gestaltet und problematisiert wird, das untersucht der Forschungsbereich der Literary Animal Studies.

PD Dr. Julia Bodenburg

Germanistisches Institut

Weiterführende Literatur:

Das Märchen „Der gestiefelte Kater“ der Gebrüder Grimm und die Tierfabel „Der Fuchs und der Rabe“ von Äsop können jeweils auf der Website des Projekt Gutenbergs nachgelesen werden:

https://www.projekt-gutenberg.org/grimm/maerchen/chap093.html

https://www.projekt-gutenberg.org/aesop/fabeln2/chap003.html

Julia Donaldson: Der Grüffelo. Mit Illustrationen von Axel Scheffler.  Aus dem Englischen von Monika Osberghaus. Weinheim 1999.

Vanessa Walder: Die weiße Wölfin. Mit Illustrationen von Simona M. Ceccarelli. Bindlach 2022.

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