Wie kann die zunehmende Gegenläufigkeit zwischen dem Wunsch nach mehr Beteiligung und Rückgang der bestehenden partizipativen Elementen der Demokratie gelöst werden?

Der Widerspruch ist hier lediglich vordergründig. Dass sich vor allem junge Bürgerinnen und Bürger aktuell wieder stärker politisch engagieren (wollen), hat gerade mit dem Vertrauensverlust in die etablierten Parteien und der Krise der repräsentativen Demokratie zu tun. Diese Krise besitzt mehrere Ursachen: 1) die Digitalisierung, die es technisch ermöglicht, dass sich ein jeder politisch zu Wort melden kann, gleichgesinnte Follower:innen findet und dadurch eine kritische Gegenöffentlichkeit zu den politischen Eliten und Leitmedien bildet; 2) eine veränderte, komplexe Gesellschaft, in der die früheren Volksparteien an Bedeutung verloren haben und es zunehmend schwerfällt, die zum Teil gegensätzlichen Interessen und Werte der verschiedenen Gruppen und Generationen zu repräsentieren; 3) schließlich die Globalisierung, die die Gestaltungsmacht nationalstaatlich organisierter Politik ohnehin stark beschränkt und in der eine wenig bürgernahe Europäische Union zusätzlich zur Entfremdung zwischen Bevölkerung und gewählten Volksvertreter:innen beiträgt.

Der gesteigerte Wunsch nach politischer Partizipation jenseits der klassischen Parteienkarriere spiegelt demnach ein doppeltes Ziel wider: sich subjektiv aus dem Gefühl der politischen Ohnmacht zu befreien sowie die gegebenen Optionen, mitzubestimmen und politischen Einfluss zu gewinnen, zu nutzen. Insofern scheint es nur logisch, dass sich die politische Beteiligung derzeit verstärkt in Form von Bürgerinitiativen und -protesten, Demonstrationen und Widerstandsbewegungen, Online-Kampagnen und kritischem Aktivismus ausdrückt. Für die klassische (Parteien-)Demokratie ist diese Entwicklung zum einen durchaus als Fortschritt zu betrachten, der dem Problem der Politikverdrossenheit begegnet und eine längst fällige Anpassung der Volksherrschaft an die digitalen Techniken vornimmt. Allerdings besteht die große Gefahr, dass das negative Image vieler Parteien und Politiker:innen vor allem populistischen Strömungen zugutekommt und die im Netz kursierenden Verschwörungsmythen und ,alternative facts‘ die Gesellschaft spalten. Zu verhindern ist mithin vor allem, dass die „Gegenläufigkeit“ zwischen alten und neuen Partizipationsformen das Vertrauen in die Institutionen des demokratischen Rechtsstaates als solches erschüttert. Wieder mehr Vertrauen gewinnen aber können die politischen Eliten nur dadurch, indem sie die unterschiedlichen Anliegen und Sorgen in der Bevölkerung und besonders von jungen Menschen ernst nehmen, sich den gravierenden ökologischen und sozialen Herausforderungen der Zukunft stellen und – wie z. B. in der aktuellen Pandemie – nicht durch einseitige Schuldzuweisungen von eigenen Versäumnissen ablenken.

Prof. Dr. Oliver Hidalgo

Institut für Politikwissenschaft

Literaturtipp:

Philip Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, Berlin 2020

(auch als Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2021 erhältlich).

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