Wir wissen, dass Tiere denken und fühlen. Aber können sie auch Entscheidungen treffen? Agieren sie rein instinktiv? Was leitet meinen Hund, wenn er sich das kleinere Stückchen Wurst nimmt statt des größeren Stücks?
Tiere verhalten sich instinktiv. Diese Aussage begegnet uns immer wieder. Aber was bedeutet das überhaupt?
Vor etwa hundert Jahren begannen die späteren Nobelpreisträger Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen, das Verhalten von Tieren zu erforschen. Sie waren besonders fasziniert davon, dass Tiere bestimmte Verhaltensweisen nicht erlernen müssen, sondern sie schon bei der ersten Ausführung beherrschen. Ihren Theorien zufolge wird solch angeborenes Verhalten durch Instinkte gesteuert.
Demnach aktivieren sogenannte Schlüsselreize in der Umwelt einen Auslösemechanismus und führen dadurch zum entsprechenden instinktiven Verhalten. So reagiert beispielsweise der Nachwuchs von Silbermöwen mit angeborenem Pickverhalten, um nach Futter zu betteln, sobald sich die Eltern dem Nest nähern. Der Schlüsselreiz für diese Reaktion ist ein roter Fleck auf dem Schnabel der erwachsenen Tiere. Selbst wenn man vollkommen unerfahrenen Küken einen nachgebauten Schnabel mit unterschiedlich gefärbten Flecken zeigt, bevorzugen sie instinktiv die mit einer roten Markierung.
Tatsächlich werden bei verschiedenen Tierarten viele angeborene Verhaltensreaktionen durch solche Schlüsselreize ausgelöst. Wir wissen heute allerdings auch, dass Umwelteinflüsse und Erfahrungen oftmals entscheidend beeinflussen, wie sich Tiere in einer bestimmten Situation verhalten. Und so können sie Entscheidungen treffen, die nicht allein von äußeren Reizen gesteuert werden – selbst wenn es um instinktives Verhalten wie die Nahrungsaufnahme geht.
Das verdeutlicht zum Beispiel der sogenannte „Marshmallow-Test“. Die ursprüngliche Variante aus der Psychologie stellt Kinder vor die Wahl, entweder geduldig auf zwei Marshmallows zu warten – oder ein Zeichen zu geben und sofort ein Marshmallow zu erhalten. In abgewandelter Form lässt er sich problemlos auch bei Tieren anwenden. Das verblüffende Ergebnis: Tiere verschiedener Arten – von Affen, Hunden und Krähen bis hin zu Tintenfischen – lassen eine weniger begehrte Belohnung unberührt, um später eine beliebtere Belohnung zu bekommen!
Auch eine Untersuchung an Ratten zeigt, dass Tiere nicht immer reflexartig auf äußere Reize reagieren. Denn zumindest einige von ihnen entscheiden sich bei der Wahl zwischen verschiedenen Futterbelohnungen für die kleinere, wenn sie dadurch einem Artgenossen einen Elektroschock ersparen können. Einer anderen Studie zufolge lehnen Hunde wiederum angebotenes Futter von Personen ab, die ihrem Herrchen oder Frauchen zuvor ihre Hilfe verweigert haben.
Was genau den in der Frage angesprochenen Hund dazu bewegt, auf das größere Stück Wurst zu verzichten, lässt sich allerdings nur schwierig beantworten. Vermutlich ist er es gewohnt, gut versorgt und satt zu werden. Daher spielt es für ihn möglicherweise einfach keine allzu große Rolle, wie groß die Portion für den beobachteten Moment ausfällt.
Literaturempfehlung:
Norbert Sachser: Der Mensch im Tier. Warum Tiere uns im Denken, Fühlen und Verhalten oft so ähnlich sind. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2018.
Joint Institute for Indivualisation in a Changing Environment (JICE)