Warum gibt es uns?

Die Frage, warum es uns, also den Menschen, gibt, sucht im Grunde genommen eine Antwort auf die Frage, warum es ein Lebewesen gibt, das nach dem Grund seines eigenen Daseins fragen kann. Kein anderes Lebewesen, sei es Tier oder Pflanze, stellt sich die Frage nach dem Grund seiner Existenz. Die Frage lautet also, warum gibt es ein Lebewesen, das nicht einfach nur lebt und da ist, sondern aus seinem unmittelbaren Dasein heraustreten und sowohl die Natur als auch sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens machen kann.

Evolutionstheoretisch, also aus Sicht der Entstehungsgeschichte der Arten, können wir trotz einiger Lücken im Stammbaum die Vorstufen des Menschen in seiner modernen Gestalt (homo sapiens) inzwischen ganz gut rekonstruieren und datieren. Doch warum der Mensch als wenig spezialisiertes „Mängelwesen“ (Arnold Gehlen) seinen Verstand nicht nur dazu gebraucht, seine Existenz zu sichern und zu verbessern (Selektionsvorteil), sondern auch um sich selbst in Frage zu stellen, entzieht sich einer evolutionstheoretischen Erklärung.

Verstandesmäßig betrachtet, so Rousseau, unterscheidet sich der Mensch von anderen Tieren nur in quantitativem Sinn, d. h. er verfügt über mehr Verstand. Der qualitative Unterschied zum Tier bestehe darin, dass der Mensch über einen freien Willen verfüge, der als Grund der „Geistigkeit seiner Seele“ zu betrachten sei. Die Frage, warum nur der Mensch frei ist, sich Zwecke zu setzen, die keinen Selektionsvorteil darstellen, etwa dem Sterbenden zu helfen oder über sich selbst im Verhältnis zu anderen Lebewesen oder zur eigenen Spezies nachzudenken, entzieht sich einer wissenschaftlich objektiven Erklärung. Die Wissenschaft kann ihre Methoden und Instrumente nur einsetzen, um festzustellen, ob der Mensch über einen freien Willen verfügt oder nicht. Sie kann aber nicht erklären, warum sich der Mensch über seine tierischen Instinkte hinwegsetzen kann, warum es also den Menschen mit all seinen Eigenschaften wie Scham, Mitgefühl und freiem Willen gibt, die ihn erst zum Menschen im umfassenden Sinne machen.

Zu fragen, warum es den Menschen gibt, ist so betrachtet gleichbedeutend mit der Frage, warum es ein Wesen gibt, das sich selbst gattungstypische Eigenschaften wie Mitleidsfähigkeit und freien Willen zuschreiben kann und sich dadurch definiert. Auf diese Frage haben bisher nur die Theologen unter Verweis auf den Willen der Schöpfung eine Antwort gefunden. Die anderen Wissenschaften stehen vor einem Rätsel.

Prof. Dr. Ursula Reitemeyer-Witt

Institut für Erziehungswissenschaft

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