Wer bin ich?

Aus Sicht der Sozialpädagogin:

Die Frage, wer bin ich, stellen sich viele Menschen immer wieder, und es sind vielfältige Antworten auf diese Frage möglich. Gerade im Jugendalter ist es  besonders wichtig, Antworten auf diese Frage zu finden. In dieser Lebensphase werden die entscheidenden Weichen für den weiteren Lebensweg gestellt, entwickelt sich erstmals die eigene Identität  und damit so etwas wie die Zusammenfassung der Antworten auf die Frage, wer man ist. Dies ist wichtig, um für sich selbst, aber auch für das Zusammenleben mit anderen Verantwortung übernehmen zu können.

In der Jugendforschung geht man deshalb von drei zentralen Herausforderungen aus, die alle jungen Menschen bewältigen müssen. Mit Qualifizierung wird angesprochen, dass junge Menschen umfassende Kompetenzen erwerben müssen, um die eigene Zukunft bestreiten zu können. Sie müssen allgemeinbildende, soziale und berufiche Handlungsfähigkeiten erlangen. Dies geschieht an allen Orten des Bildungssystems wie z. B. in der Schule, im Ausbildungssystem und in den Hochschulen. Aber auch in den Familien finden solche Bildungsprozesse statt und an außerschulischen Orten wie z.B. in der offenen Kinder- und Jugendarbeit oder beim ehrenamtlichen Engagement.

Verselbständigung verweist darauf, dass das Jugendalter mit Prozessen verknüpft ist, deren Ziel es ist, in sozialer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht Eigenständigkeit zu erlangen. Die Loslösung vom Elternhaus, der erste eigene Haushalt, das politische Engagement, der Einstieg in die Berufstätigkeit und die Gründung einer eigenen Familie sind typisch für die Verselbständigung.

Selbstpositionierung bedeutet, dass junge Menschen ihren eigenen Platz in der Gesellschaft suchen und finden. Sie knüpfen Beziehungen, orientieren sich sexuell, mischen sich in Politik ein. Dabei probieren sie unterschiedliche Antworten auf die Frage, wer bin ich, aus. Typisches Zeichen dafür ist, dass Freundschaften mit Gleichaltrigen immer wichtiger werden und junge Menschen sich zu wechselnden Jugendkulturen, d.h. zu unterschiedlichen Gruppen und Szenen zugehörig fühlen.

Das alles trägt zur Beantwortung der Frage bei, wer ich bin; das heißt aber auch, dass Antworten gefunden werden müssen auf Fragen wie wer will ich sein, wie möchte ich leben, wie sollen andere mich wahrnehmen. Insgesamt geht es darum, ein Balance zwischen subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit zu finden.

Die Möglichkeiten solche Fragen zu stellen, sind heute viel umfassender als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war, als der eigene Lebensweg quasi mit der Geburt angelegt war. Heute können sich junge Menschen für ganz andere Lebenswege entscheiden, als für jene, die ihnen von den Eltern vorgelebt werden.

Dass die Anzahl der potentiellen Antworten auf die Frage, wer bin ich, sehr viel größer geworden ist,  ist auf der einen Seite eine große Chance auf Selbstbestimmung. Auf der anderen Seite ist die Suche nach Antworten dadurch aber auch herausfordernder geworden. Und  die Möglichkeiten junger Menschen, die für sie passenden und sozial anerkannten Antworten zu finden und zu leben, sind ungleich verteilt. Nicht alle jungen Menschen haben die gleichen Bildungschancen, können in materieller Sicherheit Freiräume nutzen, um sich auszuprobieren und um Neues zu lernen. In Coronazeiten sind junge Menschen zudem besonders von den Auswirkungen der Pandemie betroffen. Ohne eigene jugendspezifische Sozialräume und ohne soziale Kontakte zu Gleichaltrigen bleiben ihnen zentrale Möglichkeiten der Selbstpositionierung versperrt.

Prof. Dr. Karin Böllert

Institut für Erziehungswissenschaft

Zum weiterlesen:

https://www.bmfsfj.de/resource/blob/115438/d7ed644e1b7fac4f9266191459903c62/15-kinder-und-jugendbericht-bundestagsdrucksache-data.pdf

https://www.bmfsfj.de/resource/blob/114190/be92bf1a08ec1d45578d06eb9bd49d18/jugend-ermoeglichen-jugendbroschuere-zum-15-kinder-und-jugendbericht-data.pdf

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