Wieso sind Fliegenpilze giftig?

Die Frage „Warum?“ kann in der Biologie immer Zweierlei bedeuten. Zum einen kann es die Frage nach dem Sinn eines Merkmals oder eines Verhaltens sein. Das wäre in diesem Fall also die Frage „Welchen Vorteil haben Fliegenpilze davon, dass sie giftig sind?“. Oder, anders ausgedrückt, die Frage nach dem Grund, warum sich dieses Merkmal in der Evolution der Fliegenpilze durchgesetzt hat. Die Antwort darauf ist vermutlich die gleiche wie bei vielen anderen giftigen Lebewesen: Als Schutz dagegen, gefressen zu werden. Dazu passt die auffällige Warnfarbe, die möglichen Fressfeinden signalisiert: „Vorsicht, Finger (bzw. Hufe, Krallen etc.) weg, ich bin giftig!“. Allerdings hilft dieser Schutz meist nicht gegen alle möglichen Feinde, so auch nicht beim Fliegenpilz. Viele Schnecken und Insektenlarven sind in der Lage, problemlos Fliegenpilz zu verzehren, und auch Eichhörnchen und Hasen scheinen gegen die Giftwirkung weitgehend immun zu sein.

Die zweite Bedeutung von „Warum?“ ist in der Biologie die Frage danach, wie ein Merkmal oder Verhalten in einem Lebewesen konkret zustande kommt oder ausgelöst wird. In diesem Falle also so etwas wie „Was bewirkt, dass Fliegenpilze giftig sind?“. Fliegenpilze enthalten, vor allem in dem Fleisch des Pilzhutes, einen Stoff namens Ibotensäure. Dieser Stoff wird beim Trocknen und wohl auch nach der Aufnahme durch ein Tier im Zuge der Verdauung in die Substanz Muscimol umgewandelt. Dieses Muscimol ist es auch, welches für die giftige Wirkung des Pilzes hauptsächlich verantwortlich ist. Es beeinflusst die Reizweiterleitung an bestimmten Nervenverbindungen und die Wirkung ähnelt der eines starken Alkoholrauschs, allerdings ohne anschließenden Kater. Im Vergleich zu anderen Giftpilzen, z.B. dem Knollenblätterpilz, ist die Giftwirkung allerdings eher gering. Berechnungen von Medizinern haben ergeben, dass ein erwachsener Mensch ca. 10 ganze Pilze verzehren muss, um an der Vergiftung zu sterben. Von einigen nordischen und sibirischen Naturvölkern ist bekannt, dass sie Fliegenpilze bewusst einsetzen, um sich in Rauschzustände zu versetzen. Es gibt glaubhafte Berichte, dass sogar Rentiere in bestimmten Gegenden aktiv nach Fliegenpilzen suchen und sich nach dem Fressen der Pilze wie betrunken benehmen. Andererseits gibt es aber auch Hinweise, dass der Genuss von Fliegenpilzen zu ernsthaften Schädigungen der Leber führen kann, weshalb von Experimenten mit dieser Naturdroge dringend abzuraten ist.

Dr. Harald Kullmann

Zentrum für Didaktik der Biologie

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