Was passiert, wenn ein sich in einer Superposition befindendes Quantensystem mit der Umgebung interagiert? Müsste die Superposition dann nicht verloren gehen?

Ja, ein Quantensystem interagiert immer mit seiner Umgebung und diese Wechselwirkung zerstört quantenmechanisch Superpositionen. Der Prozess wird als Dekohärenz bezeichnet.

Um das zu verstehen, müssen wir aber erst ein paar Schritte zurückgehen.
Zuerst müssen wir uns mit Wellen befassen. Ihr kennt viele verschiedene Arten von Wellen, z.B. Wasserwellen oder Schallwellen. Ihr könnt Wellen in einem Seil erzeugen, wenn ihr es schnell auf und ab bewegt. Wenn ihr nun das Seil zum Seilspringen benutzen wollt, müssen zwei Personen das Seil gleichzeitig im Kreis bewegen. Jeder allein würde durch die Armbewegung eine Welle im Seil erzeugen, aber durch die gleichzeitige Bewegung addieren sich die Wellen und es entsteht die schöne Kreisbewegung des ganzen Seils. Diese Addition von Wellen wird in der Physik als konstruktive Interferenz bezeichnet.

Ihr könnt einmal ausprobieren, die beiden Seilenden in entgegengesetzte Richtungen zu bewegen. Dann löschen sich die Wellen gegenseitig aus und es entsteht keine Kreisbewegung, in der ihr Seilspringen könnt. Das heißt dann destruktive Interferenz.

Grundsätzliche können alle Wellen überlagert werden, also Interferenz zeigen. Wir nehmen nochmals das Beispiel vom Seilspringen. Stellt euch jetzt vor, dass eine oder einer von euch mit dem Arm eine ordentliche Kreisbewegung macht, der oder die andere wackelt mit dem Seilende aber nur wild kreuz und quer in der Luft. Dann wird es nie zu einer schönen Kreisbewegung des Seils kommen. Die beiden Wellen können dann nicht sauber interferieren. In der Physik sagen wir dann, dass die Wellen inkohärent zueinander sind. Umgekehrt sind Wellen kohärent, wenn sie sich über eine längere Zeit aufsummieren oder auslöschen können, also interferieren.

Um das Ganze nochmals anhand einer anderen Art von Wellen zu veranschaulichen, betrachten wir nun Wasserwellen. Ihr habt sicher schonmal gesehen, dass kreisförmige Wellen entstehen, wenn ihr einen Stein ins Wasser werft. In einem Experiment können wir durch Wassertropfen solche Wasserwellen erzeugen. Nehmen wir nun zwei Wassertropfen gleichzeitig, die in einem kleinen Abstand voneinander ins Wasser fallen, beobachten wir, dass sich die Kreiswellen in manchen Bereichen aufaddieren und in manchen auslöschen. In der Computersimulation im Bild führt die Auslöschung, also die destruktive Interferenz, zu den weißen diagonalen Linien. Das passiert in acht verschiedenen Richtungen und erzeugt das schöne Stern-Muster. Die Aufaddition, also die konstruktive Interferenz, erzeugt ein Streifenmuster. Wir sehen also Interferenz zwischen den Wellen und wir haben gelernt, dass die Wellen dann kohärent zueinander sind. In dem Bereich, wo sich die Wellen überlagern, sprechen wir von einer Superposition der einzelnen Kreiswellen. Damit haben wir den ersten wichtigen Begriff aus der Frage geklärt. Die Verknüpfung mit der Quantenphysik machen wir erst etwas später.

Jetzt machen wir denselben Versuch mit den Wasserwellen, aber nicht mit einer glatten Wasseroberfläche. Zusätzlich zu den beiden Kreiswellen regnet es kleinere Wassertropfen. Dadurch entstehen an zufälligen Stellen zu zufälligen Zeiten viele weiter kleine Kreiswellen. Auch diese überlagern sich mit den ursprünglichen beiden Kreiswellen und stören das ordentliche Stern-Muster aus konstruktiver und destruktiver Interferenz. Je weiter weg vom Zentrum der beiden ursprünglichen Kreise wir uns die Überlagerung der Wellen ansehen, desto deutlicher ist der Einfluss der Regentropfen. Ab einer gewissen Entfernung können wir nicht mehr sagen, ob die beiden ursprünglichen Wellen eine ordentliche Überlagerung zeigen. Also schließen wir, dass sie ab dieser Entfernung ihre Kohärenz zueinander verloren haben. Diesen Verlust der Überlagerung durch den störenden Regen nennen wir Dekohärenz.

Dieses anschauliche Beispiel zeigt uns, dass die Umgebung – hier der Regen – die Superposition von Wellen zerstört, also zu Dekohärenz führt.

Wir haben das Wasserwellen-Experiment auch einmal durchgeführt und als Störung die Luftströmung eines Föns verwendet. Wir erkennen genau die vorher beschriebenen Eigenschaften aus den Computer-Simulationen.

Bild: Frank Wahlert und Anré Berken, Physikalisches Institut, Universität Münster

Quelle: Daniel Wigger, Frank Wahlert.

Vor 100 Jahren haben Physiker*innen festgestellt, dass sich das Verhalten von Elektronen – also Teilchen – auch durch eine Beschreibung als Wellen verstehen lässt. Gleichzeitig zeigt Licht – also elektromagnetische Wellen – in manchen Situationen das Verhalten von Teilchen. Diese Erkenntnis von gleichzeitigen Wellen- und Teilcheneigenschaften wird als Welle-Teilchen-Dualismus bezeichnet und ist eines der Grundprinzipien der Quantenphysik. Daraus ergibt sich, dass bei quantenmechanischen Prozessen die Gesetze der Wellen gelten müssen. Da wir Physiker*innen von Natur aus faul sind, wollen wir uns keine neuen Namen für die Quantenphysik merken und verwenden einfach die gleichen Begriffe wie bei Wellen, also Interferenz, Superposition, Kohärenz und Dekohärenz.

Beispielsweise in Quantencomputern werden quantenmechanische Superpositionen von Elektronen zum Rechnen verwendet. Durch die Interaktion mit der Umgebung, also die Kabel und alle anderen Bauteile des Computers, kommt es zu Dekohärenz und die Superposition geht verloren. Das Ziel bei der Konstruktion eines Quantencomputers ist es also, Dekohärenz abzuschwächen, also den Einfluss der Umgebung zu verringern. Eine geeignete Maßnahme ist es, den ganzen Computer so weit wie möglich abzukühlen. In dem Bild der Wasserwellen würde eine höhere Temperatur stärkerem Regen entsprechen.

Quelle der Graphiken: Daniel Wigger

Dr. Daniel Wigger

Fachbereich Physik

Kategorien: ,