Wir Menschen haben nicht vergessen, dass wir auch Tiere sind. Charles Taylor, ein kanadischer Philosoph der Gegenwart, definiert z. B. den Menschen als „sprachbegabtes Tier“. Auch die Biologen verorten den Menschen in die Klasse der Primaten, die wiederum eine Unterklasse der höheren Säugetiere darstellt.
Doch im Unterschied zu den Tieren verfügt der Mensch über ein Gattungs- und Selbstbewusstsein, wodurch er sich substanziell noch von den ihm am nächsten stehenden Tieren, den Menschenaffen, unterscheidet. So erkennen Affen oder Hunde wohl ihre Artgenossen und wissen sich auch dann zu ihrer Art zugehörig, wenn sie sich äußerlich stark voneinander unterscheiden – man denke etwa an die Begegnung eines Yorkshire-Terrier mit einem Schäferhund. Aber Affen und Hunde wissen nicht, dass sie Säugetiere sind, obwohl sie ihre Jungen säugen, ebenso wenig wie sie wissen, dass sie zu den höheren Säugetieren gehören, obwohl sie, wie viele Experimente und Beobachtungen in der Natur zeigen, in gewissem Umfang Verstandesoperationen durchführen können.
Nur der Mensch kann sich nach gegenwärtigem Kenntnisstand selbst einer Gattung zuordnen und damit auch die anderen Lebewesen in Gattungen, Klassen und Familien einteilen oder wie es in der Genesis heißt, den anderen Tieren einen Namen geben (Gen. 2,20). Auf Grund dieser besonderen, nämlich abstrahierenden, Verstandestätigkeit setze sich der Mensch an die Spitze der Schöpfung und als (von Gott, von der Vorsehung oder von der Evolution) ausgewählter Herr der Natur. Durch diese sich selbst verliehene herausragende Stellung sah sich der zivilisierte Mensch in größerem Abstand zur gesamten Tierwelt als etwa zu Gott, als dessen unvollkommenes Ebenbild (Thomas von Aquin) er sich im abendländischen Kulturraum definierte.
Im Zuge des wissenschaftlich technischen Fortschritts und einer zunehmenden Nutzbarmachung der gesamten außermenschlichen Natur erschien der Abstand des Menschen zu seinen nächsten Verwandten in der Tierwelt mit jeder neuen Erfindung größer zu werden, so dass im Alltagsbewusstsein die Tierheit des Menschen, also das, was der Mensch mit allen Tieren und Lebewesen gemein hat – etwa den Lebenstrieb – kaum noch reflektiert wird.
Die Hoffnung, die aus der Frage nach den Gründen des Menschen für das Vergessen seiner tierischen Natur spricht, ist ja die, dass Tierrechte politisch vielleicht schneller durchzusetzen wären, wenn sich der Mensch in bewusster Verbundenheit mit der Tier- und Umwelt wüsste.
Andererseits kann in der Frage aber auch eine kulturpessimistische Haltung verborgen liegen: Würde sich nämlich der Mensch eingestehen, dass er selbst nurmehr ein im Überlebenskampf der Arten triebgesteuertes Tier ist, dann wären alle Versuche, die Rechte für Mensch, Tier und Natur herzustellen, vergeblich, weil seine Kulturgeschichte dem Gesetz der natürlichen Auslese (Darwin) unterworfen wäre – ob mit oder ohne Rechtsordnung. Nur warum, so fragt Kant, etwa fünfzig Jahre vor Darwin, hätte der Mensch sich auf die Suche nach dem Rechtsstaat, d. h. auf den langen Weg der Disziplinierung, Kultivierung und Zivilisierung begeben sollen, wenn seine natürliche Bestimmung im unmoralischen Überlebenskampf liegt, den andere „Tiergeschlechter … mit weniger Kosten und ohne Verstandesaufwand“ vielleicht sogar erfolgreicher als der Mensch organisieren?
Naturwissenschaftlich betrachtet hat der Mensch seine Zugehörigkeit zu den Tieren nicht vergessen, sondern nachdrücklich festgestellt.
Philosophisch betrachtet hat er diese Zugehörigkeit nie als ausreichend erachtet, um sich in seiner Besonderheit, z. B. als Rechtssubjekt, auch gegenüber seinen nächsten Artverwandten abzusetzen. Dies führte im allgemeinen Sprachgebrauch zur Unterscheidung von Mensch und Tier, aber auch zur Disqualifikation von Trieben und Eigenschaften, welche die Menschen mit den Tieren gemein haben und dadurch die als substanziell erachtete Differenz verwischen könnten. Dennoch gilt: gerade die Abgrenzung des Menschen vom Tier, die das Tierhafte des Menschen im Selbstbild fast verschwinden lässt, beweist, dass er sich der Zugehörigkeit zu den Tieren bewusst ist, die – mit Kant argumentiert – nur in der moralischen Welt aufgekündigt werden kann. Doch davon ist die Menschheit wohl noch ebenso weit entfernt wie zu Zeiten Kants, so dass mit dem Vergessen der tierischen Natur des Menschen in naher Zukunft nicht zu rechnen ist.